Angesichts des unglaublichen Maßes an Konfusion, die im Mainstream der gegenwärtigen Inszenierungspraxis und Publizistik der Oper herrscht, werden unten in möglichst abgekürzter und thesenhafter, jedoch hoffentlich plausibler Form einige prinzipielle Grundsätze geliefert, deren theoretische Ausführung und konkrete Anwendung der Leser in weiteren Artikeln dieser Zeitschrift und in der Zukunft in einer vom Verfasser vorbereiteter Monographie zur Ästhetik des Musikdramas finden kann. Die Zusammenfassung der unten angeführten Thesen ist, bei ihrer lapidaren und ,,Arbeits“- und Skizzennatur, vom Zweifel an den Banalitäten bestimmt, die im Mainstream der Inszenierungspraxis und Publizistik immer wieder reproduziert werden.
1. Die Oper wird von vier Grundschichten gebildet: der ideellen, der poetischen, der dramatischen (die durch das Wort durchdrungen, fixiert werden) und der musischen (musikalischen).
2. Die Oper ist ein musik-dramatisches Werk, dessen Schwerpunkt im durch die Musik getragenen dramatischen Handeln besteht, nicht in der Choreographie, Szene, im technischen Arrangement.
3. Ein jedes Kunstwerk endlich ist etwas mehr als ein Gegenständearrangement, es ist nicht eine bloße ästhetische Geste, sondern eine ethisch fundierte Haltung, die auf der Seite des Schöpfers
wie auch der des Rezipienten den ganzen Menschen angeht, dessen Wesensbestimmung die Schöpfungskraft ist; es hat (soll haben), wie die Kultur selbst, eine integrale Natur und Geltung.
4. Die regisseuristische Erwartung wickelt sich vom Missverständnis dieser Tatsachen und der damit zusammenhängenden Konfusion des Begriffs der Interpretation und des Schaffens ab.
5. Die Interpretation macht die ,,kommunikative“ Natur einer jeden kognitiven, geschweige künstlerisch schöpferischen Leistung fest, die immer auf Ausdrucksmedien bezogen wird, die sie selbst nicht geschaffen hat, d. h. ein jedes Schaffen ist mit Interpretation verbunden, mit der Aneignung eines Anderen, Artfremden, so wie eine jede Interpretation schöpferisch ist, mit einer konstruktiven Leistung des Gemüts verbunden, die aber eben nicht willkürlich ist, sondern re-konstruktiv in Bezug auf die Möglichkeiten, die als realisiert immer schon inhärent sind. Eine wirkliche Schaffenskraft des Menschen ist unabtrennbar von der Selbstreflexion seines Geschaffenseins im breiten Sinn universalen Abgeleitetseins von allem, was von dem schöpferischen Subjekt ontologisch unabhängig ist, seiner Bearbeitung erschlossen, ihm jedoch somit immanent vorausgehend und ihn verbindend. Das begründet die unteilbare intellektuelle, reflexive Basis des künstlerischen Schaffens.
6. In der Oper ist das Verhältnis zwischen der musikalischen und dramatischen Seite enger als Verhältnis einer ,,Korrespondenz“, die man frei – unbeschränkt variieren könnte. Es geht um ein Verhältnis gegenseitigen Bedingens, Ausdrückens, und die Einheit des Werkes besteht in seiner Struktur, durch die es von der Seite des Autors qualifiziert ist. Diese Struktur ist zugleich mehr als Summe realer Bestandteile, sie ist das Ganze ihrer idealen Intention.
7. Das bedeutet nicht, dass die Interpretation sich nicht unterscheiden könnte, es geht darum, dass die Interpretation immer schon etwas anderes betrifft, etwas immer schon, notwendig, an sich Identitätsmäßiges, nicht nur und erst in der Pluralität des Verstehens Bestehendes, denn das wäre eine schon logische Destruktion der (Möglichkeit der) Interpretation wie auch des Schaffens: im Begriff des Regisseurs und eines jeden ausübenden Künstlers liegt es schon, dass er ein irgendwie schon fixiertes Werk erfasst, das in der Interpretation aufgeschlossen ist, nicht aber darin, was interpretiert wird. Wenn es nicht die Einheit dieses ,,was“ gäbe, gäbe es auch keine Mannigfaltigkeit der Erfassungen, so wie es metaphysisch kein Mannigfaltiges und Vergängliches ohne eine einheitliche Basis als dessen bestimmenden Grund gibt.
8. Die Interpretations- oder Regiefreiheit so wie auch die schöpferische Freiheit bedeutet keine Willkür, Unbeschränktheit. Die Freiheit ist nicht dasselbe wie der Ausdruck von sich selbst ohne
Beschränkung von außen, dann handelt es sich zugleich um eine Notwendigkeit, um ein Tun dessen, was bloß mein Wille diktiert, während die Freiheit mit Sittlichkeit verbunden ist: nicht damit,
dass ich (somit ,,notwendig“) Beliebiges tue, sondern damit, dass ich nicht Beliebiges tue, dass ich (mir) Grenzen setze. Ein jedes Schaffen, so wie schon eine jede Deskription, ist mit
Begrenzen, Abgrenzen verbunden. Die Freiheit mit Unbeschränktheit zu verbinden ist besonders bei der Interpretationskunst, die immer schon mit irgendeinem Material arbeitet (noch einmal: die
Offenheit der Interpretation wird durch die Einheit, die Identität des Interpretierten ermöglicht; gäbe es nicht eine Libussa, gäbe es auch keine unterschiedlichen Inszenierungen von Libussa!),
ein Ausdruck höchster Konfusion und Banalität.
9. Die Kunst als solche ist schon an sich eine ,,Interpretation“, indem es an sich ein Schaffen im angeführten Sinn von Schaffen von etwas Neuem als Abgrenzen und zugleich Überschreiten des Gegenwärtigen ist. Als solche, als nichtbeliebiges Bereichern, als wirkliches Schaffen im qualitativen Sinn, ist die Kunst ein Progress, eine Transzendenz, ein Überschreiten des Bestehenden im Sinne qualitativen Potenzierens, das im Fall des künstlerischen Schaffens das Formenausdrücken von Inhalten betrifft, von welchem und von welchen die Rationalität der gegenwärtigen Formation überstiegen ist. Die große Kunst wird sich der Verpflichtung ihrer ,,Interpretationsnatur“ der Wirklichkeit wie auch dem (somit unwillkürlichen) Horizont ihrer ,,Transzendenz“ gegenüber bewusst. Ihre Größe bewährt sich dabei durch ihren nichtaffirmativen Charakter, durch die Integrität, die von der Wirklichkeit herausgeht und im Schaffen von Anderem sie nicht zu ersetzen, sondern zum wahren Sinn zu bringen strebt, sie in ihren (damit freilich inhärenten, davon her die intellektuelle, kognitive Verpflichtung!) Potenzen zu verwirklichen (und so zugleich ihren kreativen Grund zu repräsentieren).
10. Die Präsentation der Oper in Kinosälen oder auf DVD, die Übertragung durch die moderne Technik mit Detailaufnahmen usw., kann lediglich sozial eine positive Bedeutung haben, als
Zugänglich-Machen der jeweiligen Produktion für die Zuschauer, die sie sonst nicht sehen könnten, sie geht jedoch mit der Ästhetik (der Interpretation) des Operntheaters auseinander, das
zumindest bis zur ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit immanentem Stilisiertsein seines Ausdrucks gerechnet hat, das einer Präsentation auf Weisen, die anderen Kunstarten wie dem Film
eigen sind, stemmt. Allein die Mühe um eine ,,realistische“, ,,aktualisierte“ Darbietung der Stoffe im Sinne bloß äußerlicher Zeichen, der Adaptation der Kostüme, Handlungen oder Mittel in
vermeintlich alltäglichem/gegenwärtigem Modus (wie wir es in der letzten Prager Premiere, dem Fidelio, typisch gesehen haben), ist ein Ausdruck eines absoluten Missverständnisses nicht nur
gegenüber den Ansprüchen der Einheit des Werkes, der Unmöglichkeit, in einige seiner Schichten einzugreifen, ohne damit die (wechselseitig sich konstituierende) Funktionsfähigkeit des Ganzen zu
destruieren, sondern auch der unteilbaren Stilisierung im Rahmen der Einzelschichten. Das Opernwerk kann man nicht durch eine vermeintlich realistische Behandlung seiner dramatischen, resp.
szenischen Schichte wie im Schauspiel ,,aktualisieren“, die Oper bildet schon vom Prinzip der Stilisierung ihrer musikalischen, sängerischen Ausdrucksweise aus eine immanente Inversion des
Alltäglichen und ,,Realistischen“ im banalen Sinn des Wortes.
Martin Bojda
15. 11. 2018