Philosophie der deutschen Aufklärung könnte der Titel einer historisch ausgerichteten Untersuchung heißen, der Beschreibung oder – im besseren Fall – denkerischen Rekonstruktion des Denkens einer historischen Epoche; es könnte aber auch ein Vorhaben bedeuten, gültig auch für heute: Philosophie einer deutschen Aufklärung.
Als so ein Programm ist das Erbe der philosophischen Kultur und Bemühungen des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum zu begreifen. Die Aufklärung verstand sich als ein unabgeschlossener Prozess, in Anknüpfung an das genau so unvollendete Projekt der Reformation. Das systematische wie historische Selbstverständnis basierte auf dem Gedanken der Perfektibilität, der fortschreitenden Selbstwerdung (Selbstverwirklichung) des Menschen und seiner Gesellschaft als eines vernünftigen und sittlichen Wesens. In der Idee der Perfektibilität bzw. des Fortschritts, die heute für viele einen veraltet wirkenden moralisch-didaktischen Anhauch haben mag, war eine grundsätzliche Dynamisierung des bisher überlieferten christlichen Weltbildes enthalten; sie brachte nämlich ein geschichtliches Bewusstsein zum Ausdruck, für das die geistigen Werte bzw. Realitäten im Prozess eines Werdens oder zumindest Verstehens begriffen wurden, nicht mehr bloß statisch geglaubt als Dogmen. Das bedeutete nicht notwendig eine Destruktion der Dogmeninhalte selbst, ,,nur“ eine Relativierung der überlieferten Zugriffs- und Begründungsweisen.
Die Aufklärung wird oft mit bloßer Heterodoxie identifiziert und nach dem Maß dieser Heterodoxie, d. h. der Entfremdung dem christlichen Glauben gegenüber, in der Stufe ihrer Folgerichtigkeit oder ,,Radikalität“ beurteilt. Nicht jede Heterodoxie und jede ,,Freigeistigkeit“ war und ist jedoch aufklärerisch, nicht eine jede periphäre oder von den offiziellen Instanzen verfolgte nonkonforme Erscheinung kann als fortschrittlich in dem humanistischen Sinne gedeutet werden, um den es in der Aufklärung wesenhaft ging. Manche genuin aufklärerischen Werte haben sicherlich unterschiedliche Denk- wie Lebensformen angestrebt und mitverwirklicht, materialistisch-empiristisches Denken genauso wie einige Formen des ,,Libertinismus“. Trotz dieser Diversität ist jedoch m. E. auf einer ,,inhaltlichen“ Bestimmung der Aufklärung besonders in Deutschland zu insistieren, wo sie sich unter spezifisch anderen Bedingungen zu formieren hatte als im wirtschaftlich und gesellschafltich fortgeschrittenerem Westeuropa (woher viele wichtigen Impulse stammten).
In der Aufklärung ging es um die Verbreitung des Lichtes über die Dinge von Seiten der menschlichen Vernunft, zugunsten ihres (und des erkennenden Menschen selbst) richtigen Verstehens. Das bedeutete jedoch nicht, dass der Mensch der einzige Träger (,,Besitzer“) des geistigen Lichtes in der Welt wäre, geschweige dass die ,,Dialektik der Aufklärung“ in der Durchsetzung einer in diesem Sinne invasiven, instrumentellen und einseitig analytischen Rationalität bestünde, wie unter dem Einfluß einiger Simplifikationen oft behauptet wird. In der Auffassung der ontologischen wie kognitiven Struktur des Verhältnisses zwischen dem erkennenden (und, so neu verstanden: tätigen) Subjekt der Aufklärung und der aufzuklärenden Welt gab es unter den vielen Systemen der Aufklärungsphilosophie reiche Differenzen; eine Sache, die ihnen jedoch gemeinsam war und die als ein inneres geistiges Fundament wirklich aufklärerischer Philosophie zu verstehen ist, war die rationalistische und damit humanistische Ausrichtung dieses Denkens: die Basis in der freien Vernunft und Natur des Menschen, der die Dinge begreifen und dementsprechend vernünftig = moralisch, wahr = gut mitgestalten soll. Die aufklärerische Vernunft ist rational und zugleich moralisch, dies aber nicht aus einer bloßen ,,sich selbst setzenden“ Omnipotenz, sondern dank ihres Zugriffs auf die Wahrheit (das ,,Licht“) der Sachen selbst. Sie ist positionell, und zugleich grundsätzlich prinzipiell.
Die Prinzipialität des aufklärerisch-rationalistischen Denkens war die eigentliche Stütze seiner Modernisierungsnatur. Sie beruht auf der Transparenz und Verlässichkeit der Begründung des Wesens (raison, Grund) der Dinge, der reellen wie ideellen Geltungen. Die Wahrheiten sollten nicht mehr nur behauptet und geglaubt, sondern erklärt und begriffen werden. Sie wurden nach ihrer Genealogie und Geltung befragt – und damit auch historisiert und moralisiert, als Inhalte kognitiver und ethischer Komprehensionen begriffen. Dies hat zugleich eine Perspektivierung und Liberalisierung der Gesichtspunkte (der Geltungansprüche) mit sich gebracht, die Hand in Hand mit der gesellschaftlichen Liberalisierung ging, mit der Umwandlung der feudalen Gesellschaft in die bürgerliche und der Etablierung ihrer weltlichen Infrastruktur: der Formierung der Journalistik, des Waren- und Informationswechsels, des Lese- oder Theaterpublikums. An Stelle der elitären Hofkultur und primär lateinischen Gelehrsamkeit formierte sich eine kritisch diskutierende heterogene Öffentlichkeit. Die Entwicklung des Büchermarktes und Lesepublikums, der Zeitschriften und bürgerlicher Theaterbühnen war ein wesentlicher Teil, Ausdruck wie Boden der theoretischen Aufklärungskultur. Innerhalb dieser Infrastruktur waren die Intellektuellen, die ,,Lumières“, nicht nur ,,Mentoren“, sondern auch Akteure des öffentlichen Diskurses, der wesenhaft als offen, unabgeschlossen, und deshalb auch tolerant und antiautoritär verstanden wurde.
Die Idee der Toleranz basierte nicht auf einem Relativismus, sondern auf der Pluralität der Zugriffe und Erkenntnisse. Nichtsdestotrotz war gerade der aufklärerische Rationalismus als prinzipiell denkend universalistisch: Gerade der Universalismus, durch die transparente rationale Ableitung der Wahrheiten befestigt, verbarg in sich das unerwartet starke Modernisierungspotenzial, nämlich das demokratische Ethos allgemein gültiger Bestimmungen, von der Sphäre der Metaphysik bis hin zu der des gesellschaftlichen Lebens. Er bildete eine Hemmung der Machtwillkür, starrer Ordnungen, falscher Autoritäten und Konfusionen zwischen – mit Lessing gesprochen – historischen und notwendigen Vernunftwahrheiten. Die Menschen sollten sich ihrer universalen Bestimmungen (Dispositionen) bewusst werden, und damit auch ihrer Rechte. Auf dieser Grundlage war es nicht mehr so leicht, mit einer ein für alle Mal gültigen Teilung auf Herren und Knechte zu rechnen. Der Rationalismus war bemüht, die (gemeinsame) Essenz, die universalen Bestimmungen der Dinge zu begreifen. Das hatte hinsichtlich des Menschen entschieden egalitäre, demokratische Folgen. Als universal bestimmt muß der Mensch als mit den anderen gleich gelten, nicht als Untertan, sondern als Bürger, und zwar als Bürger der freien Schöpfung, nicht nur des historisch entstandenen, d. h. bedingt gültigen, dem Naturrecht verpflichteten Staates. ,,Ist der Verstand größer als Macht, so ist, der ihn hat, vor unterdrückt zu achten,“ schrieb G. W. Leibniz. Metaphysisch und religiös entstand eine Spannung zwischen diesem Universalismus und der Exklusivität der Offenbarung, der überhistorischen Geltung historisch zustandegekommenen Ereignisse oder Institutionen. Damit hing die Historisierung der Heiligen Schrift sowie ihrer Dogmen und der Kirchenautorität zusammen, u. a. ihre moralische Unterbindung (Reimarus).
Es bedeutete jedoch gerade im rückständigen Deutschland, wo sich die Aufklärung primär geistig, theoretisch und kulturell durchsetzen musste, nicht, dass die Aufklärung antichristlich ausgerichtet sein müsste. Sie wurde im Gegenteil oft von den Geistlichen und religiös verankerten Denkern getragen. (Es liessen sich nur Einzelfälle bewußter Atheisten feststellen; einen spezifischen Fall bildete der Spinozismus.) Die aufklärerische Erneuerung verstand sich ähnlich wie die Reformation als Rückkehr zur eigentlichen Bestimmung des Menschen, als ,,Rückkehr zur Natur“. Die Kritik galt dem blind übernommenen ,,Buchstaben“, nicht dem Geist der Religion (dazwischen wurde seit Lessing neu unterschieden). Der Geistliche Herder hat betont, Christentum sei ,,Freiheit und Freude“ und ,,Gott sortiere Gebete sicherlich nicht nach Konfessionen“. Die Religion Christi sei laut Herder ,,die Humanität selbst“ gewesen, ,,Geist Gottes“ sei ,,Geist der Freiheit, gutmütiger Tätigkeit und Liebe“, ,,Vereiniger der Völker“, ,,entgegengesetzt (…) dem Sklavensinn, dem Haß, der Zwietracht, der düstern Traurigkeit und Trägheit“.
Bei Leibniz, dem philosophischen Inaugurator des deutschen Aufklärungsrationalismus, wurde das universale Wesen der Dinge (der Geschöpfe) in ihren ,,Monaden“ festgelegt und das Zusammenleben ihrer Gesamtheit wie auch innerer Vollzüge als harmonisch begriffen. Gerade aus der Vision einer universalen intelligiblen Ordnung, der metaphysischen Harmonie der Welt floß der ontologische Fakt und moralisch-soziale Anspruch auf Gleichheit und Wechselseitigkeit, Brüderlichkeit, auf vernünftige (und damit gute und schöne) Proportionalität der von den Menschen gestalteten Welt, die von ihrem Schöpfer durch die intelligible Ordnung be-gabt, beschenkt, aber auch verpflichtet wurde. Die reale Gestalt des Lebendigen soll dieser Ordnung, der ideellen Harmonie seiner Schöpfung, womöglich entsprechen. Diese Ordnung soll die menschliche Vernunft verstehen, die moralische und ästhetische Tätigkeit schöpferisch ,,nachahmen“; sie durchstrahlt und beseelt die Welt der sichtbaren singularen Dinge und ermöglicht ihren sinnvollen Zusammenhang, die Regelmäßigkeit und Zweckmäßigkeit in der Natur und die Kommunikation unter einzelner Vernunftwesen dank ihrer gemeinsamen kognitiven, sprachlichen und auch sittlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse. Diese sollen eben zu einer möglichst universalen, allgemein humanen Kultur erhoben werden.
In diesem – sehr allgemein hier skizzierten – Denken blieb der positiv religiöse, metaphysische Rahmen, die – oft übersehene – grundsätzliche Konformität zwischen dem leibniznianischen Rationalismus und dem Christentum darin behalten, dass der Inbegriff (der Schöpfer) der genannten intelligiblen Ordnung des Lebendigen eine andere ,,Vernunft“ bildet als die menschliche. Dies ist auch das Schlüsselargument gegen die oberflächlichen Kritiken der vermeintlich einseitigen und bloß instrumentellen, ,,selbstherrlichen“ Rationalität der Aufklärung. Der monadologische Polysubstanzialismus mit seiner linearen Historizität und Dynamik kognitiver oder ästhetischer Akte des Menschen (der hier als ein schöpferisches Geschöpf auftritt) gründete sich auf einer höheren Einheit, einem gemeinsamen Grund und Horizont in einer höheren Intelligenz, die mit der schöpferischen Gnade in eins fällt und jegliche Verabsolutierung der endlichen Instanzen, endlicher Vernunft oder Machtautorität untersagt. Stattdessen etabliert sie den ethischen, harmonistischen Imperativ. Die menschliche Vernunft und ihre ,,Aufklärung“ ist nicht selbstgenügend und autonom im Sinne einer Autarkie, sondern sie gründet sich auf dem Folgen (Suchen) der jeweils höheren, umgreifenden Ordnung der Welt, deren Intelligibilität eine vollkommen andere Natur haben muss als eine bloße analytische Rationalität. Was wir von ihr wissen können, ist jedenfalls dasjenige, dass sie transzendierend ist, kreativ und inklusiv, dass sie ein Inbegriff der universalen Wahrheit, Güte, Schönheit ist, dass sie keine mechanische oder reziproke Logik ist, sondern eine schöpferische Gnade. Auf dieser Wahrheit = Gnade gründet sich wahre Freiheit, die wiederum nicht ohne Gleichheit und Brüderlichkeit ist.
Die Aufklärung zu einer solchen Wahrheit ist immer noch ein unvollendetes, ja gerade heute zu erneuerndes Projekt. Sie kann sich der Verselbständigung und Formalisierung der Wissenschaften als eines bloßen theoretischen Fachwissens, der geistigen Entleerung nominell kultureller Institutionen, der Dehumanisierung der in ihrer ,,Rationalität“ auf bloße Effizienz reduzierten Wirtschafts- und Gesellschaftsinstitutionen entgegenstellen. Sie kann Freiheit und kritische Reflexion gegen Angst und erzwungene Sicherung stellen, Brüderlichkeit gegen Unterdrückung und Konkurrenz, Sinnhaftigkeit und Gewissen gegen bloße Effektivität und Erfolg. Die Philosophie der Aufklärung ist nicht die Sache einer vergangenen Epoche, sondern ein lebendiges Tagesprogramm, nämlich der Erhaltung und Kultivierung des Lebens als der wahren Bestimmung des Menschen entsprechend anstelle der Versuche um ihre Degradierung, der neuen Formen der geistigen wie sozialen Unterdrückung, Verwirrung und Desintegration.
Die Demokratie ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Selbstverwaltung des Demos, der Menschen. Fehlt es an einer Philosophie (Metaphysik) des Menschen, an der Definition seiner Grundwerte, kann es keine wirkliche Demokratie geben, nur einen formalen Rahmen für das nach seinen Gesetzen funktionierende ökonomische System. Wäre es nicht an der Zeit, diese Grundwerte und damit auch die Demokratie wieder oder endlich aufzuklären?
Martin Bojda
3. 11. 2022