Werte, Gründe und Ziele der Zeitschrift
Diese Zeitschrift entspringt einem Bedürfnis. Dem Gefühl eines brennenden Bedürfnisses, Mangels, ja, wie es
scheint, einer systematischen Begrenzung des Raumes für das Äußern von Meinungs- und Wertgesichtspunkten,
um die es gehen wird, und dem ebenso wachsenden Gefühl der Notwendigkeit ihrer Verteidigung im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs. Die Zeitschrift
Libuše will keine Fachzeitschrift im Sinne eines geschlossenen spezialisierten Journals sein, sondern eine Zeitschrift, die ein möglichst breites
Publikum anspricht, und sich zugleich programmatisch davor hütet, was die gegenwärtige Publizistik – und mit ihr freilich das menschliche und
gesellschaftliche Selbst-bewusstsein überhaupt – so furchtbar devaluiert: das sich verkaufende oder anderweitig konforme Mainstream-Denken, das nicht kritisch reflektiert, sondern höchstens kommentiert, und zwar die standardisierten Muster des Handelns und
Begreifens. Durch die Degeneration der Reflexion in den Kommentar, in den Kommentar der „Ereignisse“, in
das reine Registrieren von „Neuheiten“, geht auch die ursprünglich kritische Dimension und Absicht, das Fundament und der Horizont ihrer Leistung verloren. Die Reduktion des Menschen als eines vernünftigen und freien Wesens zu einem Teil des Systems (das er „von unten“ festmacht,
ohne „von oben“ gesehen zu werden) und des Denkens des Gegenwärtigen als Kommentieren der Ereignisse sind zwei Seiten desselben Phänomens: die „kommentatorische“ Einstellung den „Ereignissen“
gegenüber stellt einen Widerhall des Verlustes des Bewusstseins davon dar, dass ein jeder Mensch Schöpfer
des Geschehens ist (sein soll, sein kann); dass das Sein wie das Denken eine kreative Natur hat, und so (in seiner Möglichkeit) in keinem affirmativen, reproduktiven, sondern eben einem schöpferischen, potentiell veränderndem Bezug zum Zustand der Dinge steht.
Diese Krise hat neue Gipfel in der tschechischen Kultur erreicht, besser gesagt im tschechischen Kulturbetrieb des Jahres 2018, der zugleich einige so bedeutende, in ihrem Potenzial jedoch unverstadene Herausforderungen und Gelegenheiten mitgebracht hat, dass es nicht mehr möglich ist, dazu weiterhin zu schweigen. Das Jahr 2018 hat – mit dem 100. Gedenktag der Gründung der (inzwischen ja zerstörten) Tschechoslowakischen Republik an der Spitze – große Jubiläen mitgebracht, zu denen der 50. Gedenktag der Okkupation von 1968 zukam, und der – am unverschämtesten verschwiegene – Gedenktag der Grundsteinlegung des Nationaltheaters und der bei dieser Gelegenheit stattgefundenen Uraufführung von Smetanas Dalibor. Unterdessen wurde die Grundsteinlegung vonseiten der heutigen Leitung des Nationaltheaters durch die unwürdige Empfang- und Flugblätter-“Matinee“ wie die Untätigkeit aller Szenen der Oper am selben Tag eher lächerlich gemacht; von einer Premiere einer neuen Inszenierung von Dalibor (die einzig ein adäquates Andenken an das Jubiläum bedeutet hätte) ganz zu schweigen (es sei ergänzt, dass die Wiener Staatsoper, die die 150 Jahre ihrer Eröffnung 2019 feiert, schon in diesem Jahr mit einer großen symbolischen Ziffer geschmückt ist und im September eine repräsentative Konferenz organisiert hat, von Publikation, Inszenierungen etc. ganz zu schweigen, woran es im tschechischen Milieu keinen Gedanken geben kann). Immerhin wurde der 100. Gründungstag der Republik – zumindest nominell – zu einer Gelegenheit für einige tschechische Theater, sich endlich zu entschließen, die „Nationaloper“ aufzuführen, die Bedřich Smetana speziell für diese eine Gelegenheit geschrieben und Jahre lang bewusst (sodass er sie, inzwischen taub geworden, selbst nie hören konnte!) für die feierliche Eröffnung des Nationaltheaters aufbewahrt hat, die Libussa (Libuše). Die Gestalt der Aufführungen der Libussa schon im September 2018, nicht nur auf der Ebene der Inszenierungen, sondern noch mehr wohl auf der der Äußerungen der nominell kompetenten Personen, von Theaterdirektoren über Sänger bis zur Kritik und Publizistik, macht es – nämlich durch die Menge der Banalitäten, Stereotypen und des oft auch sachlichen Unsinnes – einem wirklich bürgerlichen Kulturbewusstsein, das nie aufgehört hat, der Mühen von Smetana und den Erbauern des Nationaltheaters zu gedenken, schlicht nicht mehr möglich, dies stillschweigend hinzunehmen.
Es geht aber nicht nur um die Gestaltungsfrage der Aufführung von Smetanas Libussa; es ist endlich auf die immer trister wirkende, durch ihre Leerheit immer unerträglichere, ja schon „schreiende“ gänzliche Situation zu reagieren, die der Opernbetrieb in Bezug auf das Nationalrepertoire nur noch als ob symbolisiert (eine Analogie der Einstellung des Prager Nationaltheaters dem tschechischen Repertoire gegenüber ist zum Beispiel in der Einstellung der Organisatoren der Bayreuther Festspiele dem Vermächtnis Richard Wagners gegenüber zu sehen). Die neue Prager Libussa-Inszenierung kam in die Zeit, in der das Prager Nationaltheater (das überdies neben dem Generaldirektor konkurrenzlos mit vier Operndirektoren disponiert ist) wiederum historisch konkurrenzlos nur noch eine einzige Oper von Smetana spielt (die populärste: Die Verkaufte Braut), von Dvořák lediglich die Rusalka und Die Teufelskätche, nichts von Fibich, um von Foerster, Ostrčil und weiteren gar nicht zu sprechen. Obwohl die Tschechen trotz der begrenzten Anzahl ihrer Bevölkerung zu den Nationen mit der reichsten Opernliteratur der Welt gehören (zusammen mit den Italienern, Deutschen, Franzosen und Russen), die die Premieren ganzer Saisons nur durch eigene Stücke ausfüllen könnten, scheint ihrem Nationaltheater das Nationalrepertoire keine Priorität mehr zu besitzen (damit zu argumentieren, dass es in den Jahren 2018 und 2019 neue Produktionen von Libussa und Dalibor aufgeführt werden, wäre im Verhältnis zum Ganzen und zur Frequenz ihres vorherigen Aufführens äußerst alibistisch.) Allein die Tatsache der langen Jahre, manchmal gar Jahrzehnte, des Nichtaufführens jener Werke, die jedoch andere Jahrzehnte lang zum nicht verschwindenden Stammrepertoire gehört haben, ist vielsagend genug für denjenigen, der die Geschichte der Gründung wie des Betriebs des Nationaltheaters (dessen Oper, durch Persönlichkeiten wie Ostrčil, Talich oder Krombholc geleitet, zumindest bis zu den 60er Jahren auf dem höchsten Weltniveau stand) ein bisschen kennt.
Dargelegte Umstände sind dabei als eine Quintessenz des Zustandes der (nicht nur tschechischen) Kultur überhaupt wahrzunehmen; gerade wegen der breiten Signifikanz dieser Lage, beginnen wir unsere davon handelnden Reflexionen in der Zeit zwischen dem 150. Gedenktag der Grundsteinlegung des Nationaltheaters und dem 100. Gedenktag der ersten Republik, die zugleich neue Vorführungen von Smetanas Libussa zeitigte. Das Problem ist nicht so sehr das Nichtspielen eines konkreten dramatischen Werkes als vielmehr die Verwandlung der Gesellschaft, die sich dabei durch ihre „offiziellen“ Vertreter und Institutionen oftmals so heuchlerisch (und, wie es scheint, unter der Gleichgültigkeit, Passivität der meisten Menschen) nach außen zu diesen Jubiläen und den mit ihnen verbundenen Inhalten verhält. Es geht um die Situation eines extremen Zuwachses (und Risikos) von populistischen politischen Bewegungen, die sich auf vermeintliche „Nationalinteressen“, „Werte“ und „Traditionen“, berufen, um durch ihre Passivität am Niedergang des wirklichen Kulturlebens beizutragen.
Ein anderes „quintessenzielles“ Beispiel, die wüst provozierende, vulgäre dramatische „Arbeit“ des kroatischen Regisseurs Frljić, hat auf billige Weise den Schlüsselanteil, den Verrat von denjenigen enthüllt, die zugleich zumeist dafür verantwortlich sind, nämlich der angeschlossenen intellektuellen und künstlerischen Eliten samt ihren Medien. Da hat sich das sich Verstecken der egoistischen, destruktiven, absichtlich beleidigenden Willkür hinter der „schöpferischen Freiheit“ enthüllt, der Affirmativismus der Kreise, die die Rolle der kritischen Arbiter erfüllen sollten. Das Theater, das von Anfang an die Hereinziehung der Zuschauer in die Handlung für sich reklamiert hat, begann sich vor deren (wie auch immer teilweise wieder anders populistisch manipuliertem) Reagieren zu verteidigen, und die Absicht zu schockieren, zu verletzen, aus der „Harmlosigkeit“, „Neutralität“ der „bloßen“ Kunst herauszutreten, wurde plötzlich damit entschuldigt, dass es doch „nur“ um Kunst gehe, und die erzielte Entrüstung des Publikums als eine inadäquate subjektive Stellungnahme. Ungefähr so wie in einem Aphorismus von Karl Kraus, nach dem sich der Mensch, der sich wie ein Schwein benimmt, damit entschuldigt, dass er „auch nur ein Mensch“ sei, und sich verwahrt, wenn sich jemand anderes zu ihm selbst wie zu einem Schwein benimmt, dass er „doch auch ein Mensch“ sei; oder in einem anderen, in dem man sich über die Undankbarkeit der Wurst empört, die das Schwein Schwein nennt. Der Zerfall des Wertebewusstseins und der Integrität der künstlerischen Schöpfung und Reflexion ist mit dem Verlust des Bewusstseins davon verbunden, dass es der dauernde zentrale und unteilbare Maßstab der menschlichen Kultur, des künstlerischen Schaffens, ist, also ihre Humanität, die zeigt, inwiefern sie wirklich eine menschliche ist.
Die neu begründete Zeitschrift Libuše reagiert auf die immer markantere „Sonderbarkeit“ unserer Zeit, in der wir leben: einer Zeit, in der – mit den chestertonschen Worten von Peter J. Kreefts gesprochen – wohl nur noch „ordinary people still believe in a real morality, a real difference between good and evil; and in objective truth and the possibility of knowing it; and in the superiority of beauty over ugliness“, wohingegen unsere „artists deliberately prefer ugliness to beauty, our moralists fear goodness more than evil, and our philosophers embrace various forms of post-modernism that reduce truth to ideology or power“; was sich in einer Kultur zeige, in welcher „philosophers scorn wisdom“ und „moralists scorn morality (The Philosophy of Tolkien)."
Romain Rolland, dessen 150. Geburtstag im Jahr 2016 unter einer traurigen Patina bezeichnender Interesselosigkeit an der Welt vorüber ging, hat seine Vies des hommes illustres als „eine Hilfe“ für die Menschen geschrieben, die eine „vie dure“, einen „combat de chaque jour“ gegen die sich vermehrende geistige Mittelmäßigkeit und Anpassungsfähigkeit führen, „un triste combat le plus souvent, sans grandeur, sans bonheur, livré dans la solitude et le silence“ – allerdings in und für die Reinheit gegen sich selbst in einer Welt, in der es um Reinheit längst nicht mehr geht. Die Bewegungskraft eines solchen Kampfes ist dabei die (so schon Rollandsche) Erfahrung, dass ein solcher „Kampf“, nämlich das Nichtakzeptieren der durch den Zeitbetrieb standardisierten „Normalitäten“, auch gegen die Autoritäten geschieht, die die Kultur „offiziell“ vertreten sollten. Rolland allerdings „n‘appelle pas héros“ selbst diejenigen, „qui ont triomphé par la pensée ou par la force“. Er nennt „héros, seuls, ceux qui furent grands par le cœur. (…) Où le caractère n´est pas grand, il n´y a pas de grand homme, il n‘y a même pas de grand artiste, ni de grand homme d´action; il n´y a que des idoles creuses pour la vile multitude: le temps les détruit ensemble. Peu nous importe le succès. Il s´agit d´être grand, et non de le paraître.“ Darin sind es die „Amis héroïques, les grandes âmes qui souffrirent pour le bien“, an deren Kopf Rolland den Beethoven stehen, schreiten sieht, die die Kraft gegen die materielle und institutionelle Übermacht über die geistige Kraft und Reinheit geben. Im persönlichen Unglück und Aug in Aug mit dem Triumph der Banalität, modisch gesprochen auch „der Lüge und dem Hass“, sollen die Menschen nach Rolland nicht sinken, sondern sich durch das Bewusstsein trösten, dass „les meilleurs de l´humanité sont avec eux“; durch das Beethovensche Muster der Geburt der Ode, zumal des Chors an die Freude durch einen verlassenen Einzelnen, der unter gesundheitlicher und sozialer Not versinkt (Vie de Beethoven).
Auch nach Friedrich Schiller (Über die ästhetische Erziehung des Menschen) soll „alle Verbesserung im Politischen von der (…) Veredelung des Charakters ausgehen“; „alle Aufklärung des Verstandes (…) verdient nur insoferne Achtung, als sie auf den Charakter zurückfließt“, ja „der Weg zu dem Kopf (…) muß durch das Herz geöffnet werden“. Dass die „Ausbildung des Empfindungsvermögens (…) das dringendere Bedürfniß der Zeit ist“, hat leider nicht nur für die Zeit Schillers gegolten, sondern mehr noch für die unsrige. Vom Charakter und Herzen, die Rolland oder Schiller thematisieren, hören wir freilich wenig im Mainstream der zeitgenössischen Philosophie und künstlerischen Produktion: Konferenzen oder Publikationen zum Thema Charakter oder Herz sehen wird nicht, desto mehr aber zur Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Subjektivität und Relativität. Der Triumph des expansiven Egoismus im künstlerischen Schaffen, am bezeichnendsten in der Theaterregie, soll und wird in der Zeitschrift Libuše demaskiert werden. Gleichsam als einem Vergrößerungsglas des sich vermehrenden allgemein menschlichen wie moralischen Verfalls, der die zeitgenössische Gesellschaft und ihre Kunst „nur“ am anschaulichsten lahmlegt; um so typischer, desto mehr ihre Produktion und auch Rezeption auf die Subjektivität angewiesen ist. Im – durch die Banalität, Leerheit seiner Ergebnisse längst überführten – manipulativen „Narrativ" der schöpferischen Freiheit als Unbeschränktheit der Willkür, der Phantasie des Schöpfers (obwohl das Schaffen schon logisch immer, ja gerade als menschlich zugleich von der Vernunft regiert, integriert wird), realisiert sich aufs Neue das totalitäre Modell der repressiven Kultur; einer Kultur, in der nicht mehr ein entmenschlichter Apparat stabilisiert wird, sondern in der –mittels der Rücksichts- und Kontextlosigkeit des erstrebten Neuen – der Mensch selbst zum Apparat wird, zum ,,appartisierten", also dehumanisierten Menschen. Das Klischee des „Neuen“ als Eliminierung alles Vorausgehenden begründet, dass schon an sich das Qualitative durch das Quantitative, das Systematische durch das Chronologisch-Historische ersetzt werden muss. Es manifestieren sich auf der Ebene des künstlerischen Schaffens, resp. Interpretierens, die durch das ganze zeitgenössische gesellschaftliche Bewusstsein durchgehenden Konfusionen und Reduktionen, wobei der gemeinsame Hauptnenner immer der gleiche bleibt: der Egoismus und die mit ihm verbundene sittliche wie auch intellektuelle (erkennende) Interesselosigkeit dem Anderen gegenüber, am charakteristischsten gegenüber: dem Älteren, dem Vorausgehenden.
Wie jedoch G. K. Chesterton gesagt hat, bewährt sich die Demokratie gerade in der Aufnahme der Tradition, in der Wortverleihung den Anderen gegenüber, inklusive der Toten. Die wirkliche (schöpferische) Rede ist nicht monologisch, sondern dialogisch, kommunikativ, sich dessen bewusst, dass ein offener Horizont eines festen Ausgangspunktes bedarf, die Kunst des Neuen einer Kenntnis des Alten, die Reichweite der Rede einer Tiefe des Zuhörens. Die Belehrung, die Kompetenz, den Dialog wie die Kommunikation abzubauen, die Verwechselung der Freiheit mit Willkür ist aber etwas, was das expansive Ego zu seiner Etablierung benötigt. Die Verkündung des „Neuen“ als einer „dicken Linie“ gegen alles Vorherige (anstatt einer aneignenden Überwindung), die radikale Diskontinuität, ist sein eigentlichstes Bedürfnis: denn dann ist es nicht nur möglich, alles Beliebige zu tun, sondern auch, dass daran immer dieselben (eben expansivsten) Menschen teilnehmen, dass es zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst, also mit der eigenen Vergangenheit, überhaupt nicht kommt. Die Kunst als Reproduktion statt Überwindung der (fortschreitenden) realen Fragmentierung dient auf eine günstige Weise den Interessen des status quo, wenn sie von den Bedeutungszusammenhängen auf vorgebliche Elementaritäten ablenkt – ohne dadurch zu dem geschichtlichen Ganzen oder zu der essenziellen Bestimmung, zum Wesen, zu gelangen. Die Reduktion der Kunst auf bloße ästhetische Geste statt einer ethisch fundierten Haltung ist ein anderes passendes Angebot für die Nachfrage nach einer Kultur, die den Eindruck einer Ganzheitsreichweite zwar erwecken kann, dabei jedoch beim bloßen „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno) stehen bleibt. Eine solche Mentalität prosperiert freilich besonders in einem Milieu, dessen politische Eliten uns darüber versichern, dass es „natürlich“, „normal“ sei, vor allem (wenn nicht einzig) an die eigenen eingeredeten „Interessen“ zu denken, in denen die (menschliche) Rationalität mit der (ökonomischen) Effizienz, die Richtigkeit mit dem Erfolg, identifiziert wird.
Die Zeitschrift Libuše – an die Tradition der Zeitschriften Dalibor oder Smetana, vor allem aber der Vierteljahrschrift (1802–04, hrsg. von J. G. Meinert) und des Jahrbuchs (1842–60, hrsg. von P. A. Klar) Libussa anknüpfend – wendet sich einem Stoff zu, der mehr als andere die Dynamik der Pole symbolisiert, zwischen denen wir die Bewegung der wirklichen und falschen, nur scheinbaren, leeren Kultur angedeutet haben. Die Libuše Smetanas wird zu Recht als ein „Herzenswerk“ der tschechischen Opernkultur wahrgenommen. Der Verweis im Titel der Zeitschrift zielt allerdings mitnichten auf eine Glorifizierung eines konkreten Werkes ab, schon gar nicht als ein Symbol einer einzelnen Nation, sondern auf die Gestalt der sagenhaften Herrscherin selbst, also auf den Stoff, der das Werk als eine Selbstrepräsentation des Nationallebens überhaupt ausleuchtet. Das Werk als dasjenige, worin sich die individuelle schöpferische Leistung mit dem Nationalganzen verbindet als einem Milieu, aus dem es erwächst und in das es hineinwächst, als dem lebendigen Boden seiner Wirkung. Die „Libussa“ ist Beispiel eines Stoffes, welcher Tradition mit Innovation verbindet, Rücksicht auf die Vergangenheit mit Progress in der individuellen schöpferischen Tat, und zwar nicht nur im Werk Smetanas, sondern auch einer Reihe ihm vorhergehenden Autoren. „Libussa“ ist ein Stoff, der das Mythische mit dem Historischen, allgemein Menschlichen, verbindet, bzw. das historisch Kollektive mit dem Individuellen, die Freiheit mit der Verpflichtung, Verantwortung, und in historischer Rücksicht die tschechisch- und deutschsprachige Kulturtradition, die die Sprach- und Denkkreise des mitteleuropäischen Raums überschneidet. In das Kulturbewusstsein in den Chroniken von Cosmas und Hájek eingetreten, neu – und so mannigfaltig! – bei Herder, Musäus, Brentano, Grillparzer, Chmelenský, Frič, Klicpera oder Wenzig und Smetana und in einigen weiteren Opern (schon aus dem 17. Jahrhundert), stellt sie einen inter-nationalen, in verschiedenen Epochen und Kunstarten wie auch Deutungen vielfach bearbeiteten, dabei doch in manchem einen Einheit stiftenden Stoff dar (zur Geschichte des Auffassens der „Libussa“ und vor allem zu ihren philosophischen und ästhetischen Werten bereitet der Chefredakteur dieser Zeitschrift eine Monographie vor, die den empfindlich fehlenden Platz in der tschechischen wie auch internationalen Literatur füllen soll; anknüpfen kann man an wertvollen Arbeiten, vor allem an das verdienstvolle, allerdings rein historische Buch von Mirko Očadlík aus dem Jahr 1939).
Die „Libussa“ verbindet Einheit
mit Mannigfaltigkeit, Tradition mit Erneuerung, Individualität mit (national wie auch sozial verstandener, strukturierter) Kollektivität, Ästhetik mit Ethik, und zu guter Letzt – im historischen
Sinn – die Nationen miteinander. In Smetanas Werk verewigt sich das Ethos als Fundament und Potenz (der Innovation) der ästhetischen Form, der Triumph der künstlerischen Avantgarde, des Fortschrittes in der Form, als einem Werk der Reflexion der nationalen Tradition. Die
Banalisierungen von Smetanas (und Wenzigs!) Libussa – vor allem ihrer dichterischen und dramatischen, aber
auch Ideenkomponente – in den gegenwärtigen Auslegungen und Inszenierungen, genauso wie ihr Übergangenwerden im internationalen Betrieb (der Popularität einer Rusalka gegenüber), sind in manchem ein so bezeichnender Ausdruck der angedeuteten Tendenzen, dass es nunmehr an der Zeit ist, gegen sie, bei der Gelegenheit
der angeführten Jubiläen und aktuellen Interpretationsversagen, die Stimme zu erheben und diese „Reaktion“ als das Sprungbrett für eine solche reflexive Tätigkeit in Bezug auf den
zeitgenössischen Kulturbetrieb und seine „offiziellen“, Mainstream-(Selbst)referenzen überhaupt zu nehmen.
Smetanas und Wenzigs Bearbeitung der „Libussa“ ist ein hoher Ausdruck des Bewusstseins vom Schwerpunkt der (National)Identität. Allerdings nicht in bloßer ethnischer, Stamm-, bzw. Sprach-Prädisposition, geschweige denn der Staatsinstitution, sondern sie ist in der Kultur – im angeführten Sinn zwischen Freiheit und Unwillkür, zwischen schöpferischer Innovation und Kontinuität – aufgespannt; im realen (sittlichen) Streben und Bewähren, wo die Schönheit ein Signum der Form der (Harmonie der) Synthesis von Wahrem und Gutem ist, so wie die Sittlichkeit die Wirklichkeit der Erkenntnis, nämlich der Suche nach der Wahrheit. Smetanas und Wenzigs Libuše, deren Verstehen man als einen Probierstein, ein Barometer der Kultur des menschlichen Verstehens ansehen kann (vor allem dessen, was das Denken und die künstlerische Darstellung der Frage der nationalen und allgemein menschlichen Identität im 19. Jahrhundert war, sein konnte), glorifiziert und grenzt das tschechische Volk nicht ab. Stattdessen manifestiert sie vor allem anderen vornehmlich die geschichtliche, die prozessuale und tätige Natur des nationalen Seins als durch die Selbstrealisierung, die Emanzipation der unreduzierbaren individuellen Kräfte und Rechte vermittelt. Das macht aus ihr einen einzigartigen Ausdruck der Masaryk‘schen Auffassung der Frage der Existenz und Freiheit der Nation als einer sittlichen und sozialen (und damit europäischen) Frage. In diesem Sinn wird unsere Zeitschrift auf die Einheit und zugleich Konkretheit wie Mannigfaltigkeit der Verwirklichung und Repräsentation (der Bedürfnisse, der Emanzipation) der menschlichen Natur, Humanität, zielend, im Geist der Libussa-Tradition inter-national und inter-disziplinär sein, der Pluralität der Meinungen und Themen geöffnet, mit dem die Einheit des Grundes fundierenden Rahmen, von dessen Festheit sich das Maβ der Freiheit der Einzelaussichten entwickelt.
Martin Bojda (Chefredakteur)
9. 10. 2018